Wer seine Wunde zeigt …

Was da auf der Website von Christoph Schlingensiefs Kirche der Angst steht ist eine zentrale Weisheit, eine unbedingte Voraussetzung für den bestmöglichen Einklang von Körper, Geist und Seele:

Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt, wer sie verbirgt, wird nicht geheilt. (Kirche der Angst, Christoph Schlingensief)

Der folgende Text ist für alle respektlosen Arschnasen, für alle Thermomixbesitzer, Topfkocher, Pastinaken  und Freunde mit Lust auf Heilung

Dann wollen wir Mal …

Ich bin Besitzer eines Thermomix. Damit bin ich nicht allein. Mit diesem koche ich immer Mal wieder eine komplette Gemüsekiste leer. Der damit zubereitete Milchreis ist eine Wucht und die Smoothies, die meine Frau damit ermischt, versorgen uns mit den leckersten Vitaminen in breiter Vielfalt.

Für uns ohne Frage ein super Gerät aus der Luxusklasse.

Wir kochen nicht gerne.

Phase 1: Ärger und Empörung

Heute am sehr frühen Morgen stolperte ich über den Facebook-Beitrages meines Freundes Pastinake (Anm.: Name von mir geändert). Dieser ist mir bis dato nur via Facebook bekannt – was nichts und alles heißen mag.

Zwar war er mir schon hin und wieder durch widerspenstige Beiträge aufgefallen, aber bisher war ich nie im Ziel seiner virtuellen Spitzen.

Heute morgen dann dies (mit freundlicher Genehmigung):

Wer seine Wunde zeigt ...

Diesem Post folgten viele Kommentare anderer Facebooker mit ähnlichem Tenor.  Thermomixbesitzer wurden kurzer Hand zum Gespött.

Und ich wurde sofort sauer.

Ich nahm meine Erkenntnisse emotionaler Intelligenz zur Hilfe und versuchte Pastinake mit klaren Ich-Botschaften über meine Empörung zu informieren.

Wer seine Wunde zeigt ...

Ich versuchte das.

Pastinake holte erneut aus, ich sah ihn sich förmlich kringelnd auf dem Boden liegen, und er legte nach.

Ich auch.

Wer seine Wunde zeigt ...

Voller Groll ging ich unter die Dusche.

2. Raus aus dem Muster

Mit Groll im Bauch stand ich also im warmen Regen. Was tun?

Ich sah drei zwei Möglichkeiten:

a) Lass gut sein – Es einfach so im Raum stehen zu lassen und nicht weiter zu reagieren war keine Option. Pastinake hatte mich getroffen und ich war verletzt. Das wollte versorgt werden.

b) Klare Abgrenzung – Mit einem letzten, respektvollen Kommentar verabschiede ich mich von Pastinake und beende die Facebook-Freundschaft mit einem, dem ich persönlich sowieso noch nicht begegnet war.

c) Deutliche Auseinandersetzung – Wir bleiben Freunde, aber ich unternehme weitere Anstrengungen, um ihn eineindeutig wissen zu lassen, dass ich das so auf keinen Fall stehen lassen möchte.

Es braucht nicht immer kaltes Wasser, um zu besinnen. Das kann man auch üben. Dann gelingt das auch unter warmen Wasser.

Mit einem dieser seltsamen „Popp“, „Schwupp“ oder „Zing“, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, wurde ich mir darüber bewusst, dass Pastinake nicht böse ist.

Ohne Frage war sein Statement nicht nett, aber weit davon entfernt, ein hartes, gerechtes Urteil einzufordern.

Ohne Frage war meine innere Reaktion unangemessen laut und groß.

Also: Pastinake hatte mich getroffen, mich verletzt, aber dies sicher ohne zu böse Absicht.

Ich entschied mich spontan, mal etwas ganz anderes auszuprobieren.

Der Plan: Pastinake sollte Freund bleiben. Und er sollte wissen, dass er zwar geschossen und mich getroffen hatte, die Wirkung und wahrgenommene Verletzung aber in keinem Verhältnis dazu stand.

Wer seine Wunde zeigt ...

3. Meine Wunde?

Wie – bitte schön – kann man sich verletzt fühlen, wenn jemand sich über einen Thermomix lustig macht?!

Eine wirklich gute Frage, um die ich mich unbedingt kümmern wollte. Unterwegs zur Antwort kam eine zunächst naheliegende, längst bekannte Erkenntnisse auf die Bühne.

De facto konnte der mir ja eigentlich ferne Pastinake gar nicht genug Kraft und Macht haben, um mich so zu vergrollen. Das kann der nicht können.

Alt bekannt: Nicht Pastinake hatte mich geärgert, ich hatte mich geärgert.

In mir kreiste es weiterhin um das zentrale Thema Respekt. Ein großes Wort. Ein großer Wert. Schnell bin ich dabei, wenn mir Respektlosigkeit begegnet – gegenüber mir, aber auch gegenüber anderen. Ja, dann bin ich schnell Kläger und schnell im Urteil.

Es ist kaum auszuhalten, dass die Leute im Stadion nicht einmal „Bitte!“ sagen können, wenn Sie sich ein Bier bestellen, weil die hinter der Theke ja sowieso nur ihren Job machen.

Es ist kaum auszuhalten, wie niederträchtig ein Markus Lanz die Integrität und Souveränität seiner andersdenkenden Gäste ignoriert, diese lachend in die Lächerlichkeit führt und dann auch immer wieder versucht, seine Gäste aufeinander zu hetzen.

Es ist kaum auszuhalten, den einen oder anderen Kerl zu hören, wenn er sein total verachtendes Frauenbild in würdeloser Weise zum besten gibt.

Es ist kaum auszuhalten, dass es immer wieder welche gibt, die sich grundsätzlich für besser und richtiger halten als andere. Im Alltag, in der Politik, im Fußball, in Religionen oder auch in der Küche.

Schlimm, oder?

Alt bekannt: Wenn Dich etwas unverhältnismäßig verletzt, ist es oft nur ein Treffer in eine längst vorhandene, alte Wunde.

So zog ich weiter in die Tiefen meines Selbst und fragte mich, ob und wann ich vielleicht selbst Opfer von zuviel Respektlosigkeit gewesen bin. Ob dies eine meiner Wunden sei.

Wenige Sekunden später war bereits klar: Nö. Das ist nicht meins.

Alsbald begann es in mir zu dämmern. Ich begann zu erahnen, dass der Kern der heutigen Ereignisse verrückter sein würde, dass es keine einfache Antwort darauf geben würde, warum ich mich sofort so getroffen fühlte.

Wer seine Wunde zeigt ...

Ich begann zu erahnen, dass es unbequem werden könnte.

Unbequem aber klar.

4. Hybris und Scham

Pastinake hatte mich zwar voll erwischt, aber natürlich ohne dunkle Absichten. Aus seiner Witzmücke hatte ich meinen Polterelefanten gemacht.

Sorry, Pastinake.

Der Dialog zwischen mir und Pastinake war friedvoll und herzlich zu einem Ende gekommen. Ich fragte nur noch kurz, ob ich den Zwischenfall anonymisiert verbloggen dürfte. Er bejahte dies neugierig und das war es dann zwischen uns. Für heute.

Der Rest war ja sowieso nur noch ich.

Ich und eine dieser meiner Wunden, diese mir eigentlich längst bekannte Wahrheit …

Viele Menschen machen andere klein, damit sie selbst nicht so klein wirken, wie sie sich fühlen. Das fehlt Selbstwert. Ich hingegen wurde mit viel zu viel Selbstwert ausgestattet.

Ich wurde vor vielen, vielen Jahren auf einen Sockel gestellt, der viel zu hoch für mich war. Ich war dafür zu klein. So schön die vielen Huldigungen auch waren, ich wollte da nicht drauf.

Zu hoch. So etwas geht nie gut aus.

Ich bin mit der Wahrheit aufgewachsen, oben zu sein, und um diese Wahrheit zu erfüllen, um oben zu bleiben …

… war ich oft und viel zu oft ein respektloses Sackgesicht.

Ich war kein Opfer. Ich war Täter.

PSSST: Damit bin ich alles andere als allein. Viel zu viel oder viel zu wenig Selbstwert führt oft dazu, dass man ständig dafür sorgt, dass andere sich klein fühlen.

Das liegt bei mir bereits viele Jahre zurück, das ist längst erkannt, erfühlt und repariert worden. Ich habe dazu gelernt und bin dann wirklich groß geworden, runter vom Sockel und heute mit meiner kleinen Rolle mehr als zufrieden. Viel besser.

Ich steh‘ heute total auf Respekt und schenke diesen von Herzen gerne.

Die Wunde, in die Pastinake heute geschlagen hat, ist meine Scham. Das ist dieses wirklich sauscheiße Gefühl, dass mich heute wieder wissen ließ, dass ich zu oft verletzt habe, das ich viel Schmerz verteilt habe und dass ich mich dabei sogar groß und richtig gefühlt habe. Das hatte ich so gelernt.

Tief in mir steckt die Scham, mich mal für etwas echt besseres als die meisten anderen gehalten zu haben und diesen das gezeigt zu haben.

Das heute besser zu wissen und besser zu machen ist ein Geschenk.

Daran von Pastinake erinnert worden zu sein, ist nicht schade sondern allemal ein herzliches Danke wert.

Aber da kann er ja nichts für. War ja ein Versehen.

Wer seine Wunde zeigt ...

Fazit

Witze sind oft deshalb gut, weil sie fies sind. Pastinake hat einen vielleicht fiesen Witz gemacht, aber es war nur ein Witz. Lustig. Das muss man ich eigentlich locker aushalten und bestenfalls hätte ich sogar mit ihm gelacht. Aber …

In Momenten, in denen Dich etwas oder jemand emotional aus der Fassung bringt und Ärger , Wut, Angst oder Trauer Dich packt und nicht mehr loslässt, hilft eine Pause und Denken. In den allermeisten Fällen hat dann jemand eine längst bestehende Wunde getroffen, einen seit langen bestehen Knopf bei Dir gedrückt. Ganz ohne Absicht. Dann war er der Auslöser, aber nicht die Ursache. Das unterscheiden zu können ist Gold wert.

Das Gefühl, das Dich dann vereinnahmt, ist nicht immer der eigentliche Schmerz der Wunde. Manchmal wird aus Scham eine Wut, manchmal wird aus Wut eine Angst, manchmal wird aus Trauer eine Depression. Auch das zu erkennen ist ein Geschenk.

Wenn Du in einer solchen Situation Raum und Zeit dafür hast, in die Situation, den anderen, die Wirkung und Dich hineinzuhorchen, entdeckst Du vielleicht neue Wahrheiten und hilfreiche Wege.

In den allermeisten Fällen ist es auch tatsächlich so, dass das Sackgesicht, das Dich zur Weißglut treibt, Dich hinterlistig und gemein daran erinnert, dass genau dieser Halunke auch in Dir schlummert. Solche Sacknasen sind schmerzhafte Spiegel von Dir, denen Dein Dank gelten sollte.

Wenn Du also das nächste Mal mit innerer Stimme über jemanden fluchst und urteilst, dann erinnere Dich daran:

Was Peter über Paul sagt, verrät mehr über Peter als über Paul.

Dann hör‘ genau hin was es über Peter Dich verrät.

Was Du über einen anderen sagst, verrät mehr über Dich als über den anderen.

Dein Urteil über andere ist Dein Urteil über Dich.

Manchmal hat man aber großes Glück und begegnet einem echten Arschloch. Dann darf man getrost und mit allem Nachdruck „Arschloch!“ rufen, sich gut fühlen und weiter gehen.

Dann muss man das Arschloch aber auch komplett zurücklassen können.

Und alles, was es mit Dir gemacht hat.

4 Kommentare

  • Hey, Du hast den Artikel ja freigeschalten. Heute morgen beim Lesen war er noch geschützt. Dafür hab ich ihn jetzt zwei mal gelesen, und woanders würde ich jetzt auf „gefällt mir“ klicken.

  • Danke, Dominic.

    Ich habe den Beitrag noch über Nacht ein wenig reifen lassen und ihn dann heute nachmittag nach etwas Feinschliff veröffentlicht. Daher die vorübergehende Sperre.

    Dein Like könntest Du auf Facebook geben ;) Aber so ist es für mich schon Kompliment genug.

  • Bewusst hier gegeben. Hält länger. ;)
    Facebook ist schon morgen vergessen.

  • Hallo Stefan, was eine solch entspannende Dusche doch so ausmacht. Mit Abstand und Kopf entwickelt sich vieles, eine sehr gute Erkenntnis die Dir in Deinem Text gekommen ist. Der ich nur zustimmen kann.
    Claus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben