Goethes Erben in Leipzig – ein Duschvorhang voll Knicklichter
Vor weniger als 24 Stunden endete meine gestrige Erfahrung, die mich folgendes schreiben lässt.
Ein Kumpel in Blue Jeans und Kapuzenpulli – nennen wir in Tobi – hatte mich zu einem Konzert eingeladen, mir aber nicht verraten, wo es hingeht. Ich also Blue Jeans angezogen. Und Kapuzenpulli. Auf ging’s nach Leipzig.
Drei Stunden später standen wir gestern also vor dem beeindruckenden Volkspalast Leipzig. Von Scheinwerfern illuminierte Säulen sehen unsere ostwestfälischen Paderhallenaugen eher selten. Aha.
Mit geschätzten 300, vielleicht 400 anderen Gästen flossen wir in das Gebäude. Wir beide in Blue Jeans, alle anderen komplett schwarz, nur zwei Ausnahmen: ein gelglatter Spargel in einem weißen Anzug und eine wahre Augenweide von Sklave Crossdresser.
Goethes Erben Rückkehr ins Niemandsland wollsollte am Abend zelebriert werden.
Ich hatte vor vielen Jahren mal in eine CD von Goethes Erben reingehört, die nun an diesem Wochenende mit uns sowohl ihr 25-jähriges Bestehen wie auch ihren Bühnenabschied feiern wollten, doch konnte ich mich nicht erinnern, ob es mir seinerzeit gefallen hatte. Zuletzt muss es nicht so überzeugend gewesen sein, dass ich die Band und ihr Werk in meine Erinnerung Sammlung aufgenommen hatte.
Aber wir werden ja alle älter, reifer und besser.
Denkt man.
Bis jetzt noch beschäftigt mich der massiv attraktive Eindruck, den das gestrige Gothic-Event bei mir hinterlassen hat. Schon in den 80ern und 90ern haben die schwarzen Anhänger_innen von The Cure, Sisters of Mercy, The Mission und Co. mich fasziniert. Ihre augenscheinliche Attraktivität und Ästhetik bannte mich. Doch blieb ich schierer Beobachter und lediglich Tänzer zur selben Musik. In Blue Jeans. Bestenfalls zerrissen.
Gestern, in Leipzig, waren viele Kinder der 80er und 90er. Sichtbar älter gewordene Fans. Jede_r einzelne heute wie damals traumschön schwarz und attraktiv, dass ich wieder zum bewundernden und irgendwie auch beneidenden Beobachter wurde. Die Welt ist schön.
Die sichtbare Hingabe der allermeisten Fans von Goethes Erben, mit der sie sich ihrem geheimnisvollen, konturlosen und ohne Frage auch sexualisiertem Äußeren widmeten ist ein Schatz, um den man neiden kann.
Sie scheinen so friedlich wie die Hippies, so ehrlich wie BDSM, so verletzlich wie Cosplay, so verbunden wie Punks und so treu wie Rocker.
Alles gut.
Ich staunte alle an und fühlte mich gleichermaßen angezogen wie unzugehörig. Genau so wie in meiner zurückliegenden Jugend.
Die Musik hatte noch lange nicht begonnen.
Alle saßen.
Mit meinem sympathischen Nachbarn zur rechten kam ich ins Gespräch. Ich hörte zu: Henke, Kopf und Macher von Goethes Erben, hatte verlauten lassen – so mein Nachbar – dass es eng wurde mit dem wirtschaftlichen Erfolg, dass die treuen Fans an Masse nicht genügten, dass die Nische zu schmal werden könne, um davon leben zu können.
Auch ließ er mich wissen, dass wir daher wohl auch Zeuge eines der letzten Konzert sein würden.
Wir sprachen darüber, dass der Markt hin und wieder die Dinge regelt und was der Grund dafür sein könnte, dass Henkes Markt so geschrumpft war.
Wir sprachen auch über so einiges anderes. Ein prima Gespräch. Netter Kontakt.
Die Zeit verging.
Ich wartete auf Henke.
Henke kam und performte.
Auch das nun folgende, in zwei Akten geteilte und zwei Stunden dauernde Konzert Musiktheater war beeindruckend. Ich blieb dennoch außen stehend. Auf der Bühne feierte sich eine 25 Jahre bestehende Gothicgröße, das Publikum feierte mit.
Auch auf der Bühne war alles wunderschön schwarz. Lediglich der Protagonist trug ein weißes Hemd wie ein Gaukler im Mittelalter und der Duschvorhang, mit dem der zweite Akt eröffnet wurde, leuchtete blau. Da waren ja auch sehr viele Knicklichter drin. Statt Postkarten.
Alles andere wundervoll schwarz. Frauen, Flügel, Musiker_innen, Tücher, Tänzerinnen.
Wirklich schön.
Schwarz.
Auch die Musik.
Wirklich gute orchestrale Musik.
Auch der Text, die deutschen Lyrics waren schwarz. Aber anders.
Uns so brach es für mich auseinander.
Da sang der Henke von der Liebe, die nur zu einem toten Menschen ehrlich sein könne, von der Freude, blasse Haut zu berühren und der Trauer, dass es heute das letzte Mal sei, denn die Verwesung setze bereits ein.
Da sang der Henke vom Nachbarn, dem Fleischer, an den sich alle rächten, denn plötzlich gab es Fleisch und seine Tochter Iphigenie war verschwunden.
Da sagte der Henke, in der Kunst sei ja alles erlaubt, und dann sang der Henke von der einen Träne im Auge des plötzlich toten Babys, dass mit einem friedlichen Lächeln des Todes im Bette lag.
WTF?!
Wirklich gute orchestrale Musik.
Auch prima inszeniert und wunderschön vorgetragen.
Vielleicht einen verzeihlichen Hauch zu selbstverliebt.
Doch was sang der da für einen unverarbeiteten Unfug?
Ich wünschte mir einfach nichts anderes, als dass Henke Franzose gewesen wäre. Oder Swahili.
Am Ende wurde ich respektvoller und Respekt zollender Zeuge eines Events einer Szene, die mich weiterhin fasziniert, auch wenn der gestrige Zirkus auf der Bühne sich einer von mir wahrgenommenen Lächerlichkeit preisgab, die ich so nicht geahnt hätte.
Fazit
Die traumhafte, zauberhafte, in Schwarz gekleidete und aus meiner Wahrnehmung mutige Schönheit der Anhänger der Szene Gothic and Wave wird mich weiterhin faszinieren und unvergleichbar anziehen. Das bleibt.
Andererseits war und bleibe ich immer absoluter Außenseiter, nicht dazugehörig und ohne Chance auf Anschluss. Auch ohne Antrieb auf Anschluss. Auf dem Friedhof ist es zu kalt für Party. Ich war und bleibe leidenschaftlicher Schwärmer. Das wirklich Verbindende hat sich jedoch nicht entblößt und trotz aller Anziehung bin ich nicht einmal in die Nähe gekommen. Einen Hinweis darauf, was uns trennt, haben mir die gestrigen Songs jedoch eindeutig gegeben. Diese waren inhaltlich absurd bis lächerlich und alles andere als meins.
So rätselten Tobi und ich zu Beginn der Rückfahrt für ein paar Minuten, was denn den eigentlichen Stoff ausmachte, der konkret diese Szene zusammenhielt, was genau verband die Anhänger von Gothic and Wave. Denn während ich für andere Szenen wie Punks, Mods, Popper, Rocker u.a. ein Bild deren Klebstoffs vor Augen habe, bleibt mir der Magnetismus der schwarzen Gesellen und Schönheiten verborgen.
Im Widerspruch dazu bleibt die klare Attraktivität für mich ungebrochen.
Ich rätsele. I wonder.
Es wird Zeit, mal wieder zu meditieren.
Dann folgte Tobi meinem Vorschlag, die weitere Fahrt zu schweigen und statt dessen laute Musik zu genießen. Swans. The seer. Zwei Stunden absolut ehrliche Musik gereifter Männer, die hörbar Bilanz ziehen. Dunkle Musik, die mitfühlbar erzählt, wie es wirklich ist.
Kein Zirkus. Kein Theater. Kein Verstecken.
Ein Brett. Dick, solide und tragfähig.
Die Autobahn komplett leer. Vollgas.
PS: Den Aufkleber von Goethes Erben, den Tobi mir gestern geschenkt hat, klebe ich auf meinen neuen Slash von Traxxas.
Das passt.
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